"Der gute Hirte" Predigt zu Hesekiel 34 von Prädikantin Verena Wache am 23. April 2023

 Gnade sei mit Euch und der Friede unseres Herrn Jesus Christus!

Liebe Gemeinde,

kein Sonntag steht wie dieser unter einem so beherrschenden Leitbild, unter dem Bild vom guten Hirten. Begonnen mit dem Psalm, den wir gebetet haben, über das Wochenlied, das eine Nachdichtung dieses Psalms ist, bis hin zu allen biblischen Texten, die für diesen Tag vorgesehen sind. Dieses Bild strahlt Geborgenheit und Zuversicht aus – trotz aller Lebenswidrigkeiten, die mit dem finsteren Tal ja auch angesprochen sind. Kein Wunder, dass sich diese Botschaft gerade an Krisen- und Weichenpunkten des Lebens immer neu bewährt und ihre Kraft unter Beweis stellt: Wie oft wird der Psalm vom guten Hirten am Grab gebetet! Oder am Krankenbett. Und mit Kindern. – Und immer zeigt er neu seine Kraft.

Ja, das Bild eines Hirten und seiner Herde ist etwas so Friedliches, dass es unvorstellbar erscheint, dass er auch zu etwas anderem gebraucht werden kann, sogar zu etwas Politischem. Und doch schreibt der Prophet Hesekiel im 34. Kapitel den Predigttext zum heutigen Sonntag:

„Des Herrn Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels und sprich zu ihnen: So spricht der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollten die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie aus den Völkern herausführen und aus den Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und wo immer sie wohnen im Lande. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen Israels sollen ihre Auen sein. Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr.“

Das ist Politikschelte im Namen Gottes aus dem Mund des Propheten! Im Fokus der Kritik Hesekiels steht der Jerusalemer Königshof samt Gefolgschaft. Wem würden nicht sogleich ähnliche Zustände aus unserer Zeit einfallen? Politische Skandale, persönliche Vorteilsnahme, Korruption ohne Rücksicht auf das eigene Volk.

In letzter Zeit treten autoritäre Hirten wieder ganz ungeniert auf, umgeben von einer Horde bellender und beißender Hunde, die die „schwarzen Schafe“ aus der Herde verjagen oder gar ausschalten sollen. Wem fiele dabei nicht sofort Herr Putin ein? In Russland wird jeder und jede, der oder die auch nur einen falschen Wimpernschlag gegen seine Allmachtbestrebungen tut, sofort eingesperrt. Journalisten, Regimekritiker und Künstler werden mundtot gemacht, zu langen Haftstrafen in Arbeitslagern verurteilt, Radio- und Fernsehsender werden dicht gemacht, Zeitungen verboten. Denken wir auch an Herrn Erdogan, der Ähnliches aus lauter Machterhaltungswillen veranstaltet. Das gleiche Motiv hat Herr Assad, der sich in Syrien nicht scheut, mit Hilfe seiner russischen Freunde einen Teil  seiner Herde zu schlachten. Ein anderer mächtiger Herrscher in China ist drauf und dran, sich eine fremde Herde einzuverleiben. Ein wahrhaft aktueller Predigttext also!

Hesekiel beschreibt solche schlechten Hirten treffend als solche, „die sich selbst weiden“: die sich selbst zuliebe um den eigenen Vorteil, um Macht und Einfluss kümmern.  Doch auch um die Herde ist es in unseren Tagen nicht so gut bestellt. Das „Sich-selbst-Weiden“ ist auf die Herde übergegangen. Da werden Fakten ignoriert, die Demokratie infrage gestellt, Fake-News verbreitet, die die Wahrheit ersetzen sollen, das Wutbürgertum geifert mit allen Vorurteilen, die längst überwunden schienen und übelsten Beleidigungen. Nein, auch bei uns gibt es nicht nur friedliche Schafe und verantwortungsbewusste, demokratische Hirten. Donald Trump lauert immer noch mit seinem „America first“ und die AfD hört nicht auf „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“ zu fordern.

Das Bild einer friedlich grasenden Herde hat aber auch etwas anderes Zwiespältiges in sich. Man könnte sich fragen: Will ich ein Schaf sein? Will ich in meinem Leben als Schaf behandelt werden? Unmündig, ein blökendes Herdentier, nicht gerade mit herausragender Intelligenz begabt? Vielleicht kuschelig und wollig, aber auch hilflos und immer in Angst vor dem bösen Wolf? Das widerspricht doch den landläufigen Vorstellungen von dem autonomen, selbstverantwortlichen, mündigen Menschen, der wir sein wollen und ja auch sein sollen. Ich verstehe zu wenig von Schafen als das ich sagen könnte, ob es richtig ist, von dem „dummen Schaf“ zu sprechen. Wer von Ihnen das wunderbare Buch „Glenkill“ gelesen hat, weiß, dass Schafe auf ihre Art und Weise sehr intelligent sein können. In diesem Buch klärt eine Schafherde den Mord an ihrem Schäfer auf. Das können sie, weil der Schäfer ihnen jeden Abend – wenn er sie in den Pferch getrieben hat – Krimis vorgelesen hat. So wussten sie, dass „Spaten im Buch“ keine Krankheit sondern ein Verbrechen ist. 

Ein Hirte – ist das nicht mehr als jemand, der eine Herde hütet? Ja, ein Hirte, das ist auch einer, dem andere Menschen anvertraut sind. Jemand, der den Auftrag hat, für sie zu sorgen, sie zu fördern, auf sie aufzupassen und ihnen mit Respekt zu begegnen. 

Und in diesem Sinn sind wir alle keineswegs einfach nur Schafe, sondern auch Hirten! Als Eltern sind wir unseren Kindern Hirte, als Erziehungsberechtigter den Schülern, als Arbeitgebern den Arbeitnehmern, als Arzt den Patienten, als Krankenschwester den Kranken, als Pflegerin den Pflegebedürftigen, als Pfarrer der Gemeinde. Nicht umsonst heißt das in Norddeutschland gebräuchliche Wort für Pfarrer: Pastor – übersetzt: Hirte. Ich bin anderen gegenüber Hirte, wenn ich in dieser oder jener Hinsicht für sie eine Verantwortung übernommen habe – geschäftlich, beruflich, ehrenamtlich, wie auch immer. 

Im Umkehrschluss ist ein Schaf ein Mensch, für den ein anderer Verantwortung hat – vielleicht nur teilweise, für einen bestimmten Abschnitt des Lebens, aber immerhin. Jede/r, der im Arbeitsleben steht, hat auch jemanden über sich, außer er ist selbst der Chef. Doch selbst der Chef hat jemanden über sich: die Banken! Also ist jeder von uns zugleich Schaf und Hirte. Im Idealfall ein gutes braves Schaf und ein guter, verantwortungsvoller Hirte.

Es ist erstaunlich, wie das Bild des guten Hirten über die Zeiten hinweg noch immer berührt. Auch wenn Schafhirten weitgehend aus unserer Lebenswelt verschwunden sind. Wir finden sie nur noch öfter auf der Schwäbischen Alb oder in der Lüneburger Heide. Hier spielt eine Geschichte, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.

Ein Mann rast mit seinem Cherokee-Jeep durch die Lüneburger Heide. Direkt vor dem Schäfer einer großen Schafherde stoppt er, steigt aus, schaut sich um und fragt dann den Schäfer: „Wenn ich Ihnen sage, wieviel Schafe Sie haben, bekomme ich dann eines?“ Wortkarg, wie Heidler nun mal sind, antwortet der Schäfer kurz mit einem Ja. Der Mann, bekleidet mit einem Armani-Anzug, Gucci-Schuhen und einer Rolex-Uhr, steigt in seinen Jeep, startet das GPS, gibt eine Menge Koordinaten in Excel-Tabellen ein und sagt schließlich: „Sie haben 2.196 Schafe.“ „Das stimmt“, sagt der Schäfer. „Kriege ich jetzt ein Schaf?“ Er nimmt sich ein Tier und will gerade losfahren, da sagt der Schäfer: „Wenn ich Ihnen sage, was Sie von Beruf sind, bekomme ich dann mein Tier wieder?“ Erstaunt sagt der Mann: „Okay“. Darauf der Schäfer: „Sie sind Unternehmensberater. Sie kommen, obwohl Sie keiner gerufen hat, stellen Fragen, die niemanden interessieren und geben Antworten, die niemand wissen will. Und jetzt geben Sie mir meinen Hund zurück.“

Man eignet sich sicher nicht als Schäfer, wenn man den Unterschied zwischen Schaf und Hund nicht kennt. Doch Gott sei Dank gibt es jemanden, der seine Schafe kennt, der uns kennt. Ist doch der gute Hirte das Leitbild unseres christlichen Glaubens bis heute. Ein Sehnsuchtsbild nach Sicherheit und Geborgenheit in den Gefährdungen des Lebens, weil Gott selbst in den ständigen Wechselfällen des Lebens den roten Faden unseres verworrenen Lebensknäuels hält. Denn für den Propheten Hesekiel ist Gott selbst der Inbegriff des guten Hirten. Er, so die Verheißung, wird sich nun selbst der Herde Israel annehmen, um sie aus dem Rachen der schlechten Hirten zu entreißen. Für uns Christen leuchtet in Jesus Christus das Bild des guten Hirten neu auf. In ihm hat sich Gott selbst der Menschheit angenommen; in der Art und Weise, wie Jesus Menschen begegnet, sie stärkt und aufrichtet, sie sucht und findet, das Verwundete verbindet und das Kranke heilt. 

„Wer nicht an Gott glaubt, glaubt nicht an nichts, sondern an alles Mögliche“, sagt Don Camillo in der Erzählung von Don Camillo und Peppone. Wieviel besser haben wir es als Christen, auf Gott zu vertrauen, als unser Leben an „alles Mögliche“ zu hängen. Wenn wir an Gott glauben, laufen wir nicht den zweifelhaften Hirten unserer Tage nach. Wenn wir in Jesus Christus den Hirten unseres Lebens erkennen, finden wir die Kraft, uns in unserer eigenen Herde als gute Hirten zu bewähren, in Familie, Beruf oder Gemeinde. Denn nur Jesus ist der Weg und die Wahrheit und das Leben. Und davon wollen wir singen.

Amen.

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