Liebe Gemeinde,

In den 60er Jahren gab es den Slogan: Trau keinem über Dreißig! Ich ging in die Grundschule und mein Freund Joschi Brockmann schenkte mir einen Aufkleber mit diesem Slogan, den ich sehr zum Ärger meiner Eltern an meinem Bett anbrachte. Auf dem Aufkleber stand also: Trau keinem über Dreißig! Dazu war ein Mann abgebildet mit wenig Haaren und weißem Bart. Dieser Mann raste auf einem Rollstuhl durch die Gegend. Ich fand das witzig. Ich habe gar nicht begriffen, dass die politischen 60er Jahre dahinter standen. Ich wusste nur: Wer über dreißig Jahre alt ist, ist alt: Dann fallen einem die Haare aus und man ist womöglich auf eine Gehhilfe oder einen Rollstuhl angewiesen. Die guten Jahre sind dann vorbei. Mehr musste ich ja auch nicht wissen. Ich ging zur Schule, machte im Schwimmverein Sport, lernte, wie man ein Fahrrad repariert und irgendwann brachte ich mir Gitarrenspielen bei. Das Leben war eine Werkstatt. Alles lag vor einem; vieles war möglich und keiner wusste, was am Ende dabei herauskommen würde. Ein Jahr war damals noch lang. Uns Babyboomern ging es gut. Wir wollten viel erleben und mussten dafür noch nicht in Freizeitparks und kamen noch nicht einmal auf die Idee, dass eine Klassenfahrt nach Paris, nach Mallorca oder noch weiter weg führen müsse. In der Kirche machten wir selber unsere Jugendarbeit und fühlten uns da wohl.

Irgendwann wurde ich dreißig. Ich bekam noch keine weißen Haare und brauchte keinen Rollstuhl. Dann Vierzig: Lebensentwürfe scheiterten, neue wurden umgesetzt. Mit Fünfzig hatte ich eine Brille, ein Hörgerät, weiße Haare, aber deutlich weniger wie früher. Trotzdem: Auch mit Sechzig ist man noch nicht alt, oder? Das sagte mir jedenfalls jetzt gerade eine Dame aus unserer Gemeinde, die mit über 80 Geburtstag hatte. „Ach, du bist ja noch so jung!“ lachte sie fröhlich. Vieles geht noch mit 60, aber etliches auch nicht mehr. Es ist nicht mehr so wie früher. Das Leben ist nicht mehr die helle Werkstatt, in der alles möglich ist und man nicht weiß, was am Ende daraus wird. Der Weg scheint vielmehr vorgezeichnet: Es wird nicht mehr im Alter. Es wird weniger. Dann ertappe ich mich bei den Gedanken, was wohl aus dem Leben geworden wäre, wenn ich in der Schule fleißiger gewesen wäre? Was wäre aus dem Leben geworden, wenn ich Entscheidungen, die ich später bereut habe, nicht getroffen hätte? Und ich denke daran, was ich noch tun kann, damit das Alter und auch der Tod nicht von unseren Kindern geregelt werden muss.

 

Ich erzähle, dass so freimütig, weil ich weiß, dass all diese Fragen jeden Menschen bewegen, auch wenn man oft nicht darüber reden mag. Es gab einen, den man den Versammler der Gemeinde nannte. Auf hebräisch: Kohelet. Und dieser Kohelet hat sich genau diese Fragen zur Sprache gebracht: Jung sein und alt werden. Ganz irdisch, fast unreligiös und doch steht sein Buch in unserer Bibel, damit wir klug mit unserem Leben und der uns verbleibenden Zeit umgehen. Das letzte Kapitel seines Buches ist der heutige Predigttext:

 

Koh. 11,9-10/12,1-7

9Freu dich, junger Mann, in deiner Jugend und sei guter Dinge in deinen jungen Jahren!Folge den Wegen, die du gehen willst, und geh dahin, wohin dich deine Augen locken!Aber sei dir auch bewusst, dass du dich für alles vor Gott verantworten musst.10Halte dir den Ärger von der Seele fern und die Krankheit vom Leib!Denn Jugend und Morgenrötesind schnell vorbei!

Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat!

Denk an ihn in deiner Jugend,bevor die Tage kommen, die so beschwerlich sind!Denn wenn du alt geworden bist, kommen die Jahre,die dir gar nicht gefallen werden.2Dann wird sich die Sonne verfinstern,das Licht von Mond und Sternen schwinden.Dann werden die dunklen Wolken aufziehen,wie sie nach jedem Regen wiederkehren.

Die Gebrechlichkeit im Alter

3Wenn der Mensch alt geworden ist,zittern die Wächter des Hausesund krümmen sich die starken Männer.Die Müllerinnen stellen die Arbeit ein,weil nur noch wenige übrig geblieben sind.Die Frauen, die durch die Fenster schauen,erkennen nur noch dunkle Schatten.4Die beiden Türen, die zur Straße führen,werden auch schon geschlossen.Und das Geräusch der Mühle wird leiser,bis es in Vogelgezwitscher übergehtund der Gesang bald ganz verstummt.5Wenn der Weg ansteigt, fürchtet man sich.Jedes Hindernis unterwegs bereitet Schrecken.Wenn schließlich der Mandelbaum blüht,die Heuschrecke sich hinschlepptund die Frucht der Kaper aufplatzt:Dann geht der Mensch in sein ewiges Haus,und auf der Straße stimmt man die Totenklage an.

6Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat,bevor die silberne Schnur zerreißtund die goldene Schale zerbricht –bevor der Krug am Brunnen zerschelltund das Schöpfrad in den Schacht stürzt.7Dann kehrt der Staub zur Erde zurück,aus dem der Mensch gemacht ist.Und der Lebensatem kehrt zu Gott zurück,der ihn gegeben hat.

 

Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend!

Für die meisten von uns kommt dieser Aufruf zu spät. Denn wir sind über dreißig und die meisten von uns deutlich älter. Die Jahre, in denen wir sagen: „Sie gefallen mir nicht!“ werden mehr. Ganz real, beschreibt Kohelet das Alter: Die Hausdamen oder Herren werden zittriger. Auch wenn man früher stark war, wird der Rücken gebeugter und zärtlich nennt er die weniger werdende Zähne Müllerinnen, die nicht mehr so viel tun können. Menschen schauen durch die Fenster, aber das Lachen ist nicht mehr auf den Gesichtern. Das Gehör wird schwächer und die Töchter des Gesangs neigen sich. Man ist auch nicht mehr so tollkühn. Man fürchtet sich vor den Höhen wenn man z.B. auf einen Stuhl steigt und ängstigt sich auf dem Weg. Und irgendwann wird das, was uns wertvoll vorkam zerspringen wie ein teurer Leuchter. Unser Staub wird wieder Erde und unser Geist geht dahin, wo er herkam.

            Das Alter als Beschreibung vieler Defizite. So sehen es viele und so reden auch viele. Es hängt grauer Nebel über diesen Worten. Und auch ein wenig Wehmut.

            Aber dann fällt mir Udo Jürgens ein: Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Mit 66 Jahren ist noch lange nicht Schluss. Zumindest das stimmt: Das das Alter eine Phase ist und noch nicht der Schluss sein muss. Das Alter gehört zum Leben. Schwächen muss man akzeptieren. Aber trotzdem können wir versuchen, noch klug zu handeln und viel zu machen. 

Ich denke da zum Beispiel an Hermann, einen Schreiner im Ruhestand. Er geht zweimal die Woche in das Heim für Schwerdemente und bastelt mit den Männern dort irgendwelche Kleinigkeiten aus Holz. Hermann muss sich nicht mehr beweisen. Mit dem, was er einmal gelernt hat, gibt er den Dementen wieder etwas Lebenssinn. Toll! 

Oder Karl Heinz, der mit 70 in eine Wandergruppe geht. Es gibt viele Beispiele von älteren Menschen, die noch einmal neues ausprobieren. Oder die kluge Entscheidungen treffen und sich zum Beispiel von einem viel zu großen Haus trennen. Das sind die Gegenbeispiele zu der Beschreibung des Altwerdens, die Kohelet uns hören lässt. Und doch hat Kohelet auch Recht, denn in den jüngeren guten Jahren sollte man das Leben ausprobieren und genießen, auch um rechtzeitig Fähigkeiten für das Alter zu entwickeln: Rechtzeitig ein soziales Netzwerk schaffen, sodass man nicht einsam und griesgrämig aus dem Fenster schaut. Rechtzeitig die heutigen Hilfsmittel nutzen, wie z.B. ein Hörgerät, wenn man die Vögel nicht mehr singen hört. Wir haben viel mehr Möglichkeiten als zur Zeit, in der Kohelet gelebt hatte. Eines aber bleibt: Was wir tun oder was wir lassen, müssen wir vor Gott verantworten. Ob wir jung sind oder alt. Wir haben das Leben nur geliehen. Am Ende werden wir wieder Staub und der Geist geht zu Gott. Es müsste doch möglich sein, Verantwortung fröhlich zu übernehmen; für uns und die Menschen, die nach uns kommen. Mutig genug, um neue Wege zu wagen und weise genug, das Gute zu bewahren. Kohelet bringt Alte und Junge gemeinsam ins Gespräch. Das wird besonders jetzt wichtig, weil es immer mehr Alte geben wird und viel weniger junge Leute. Möge Gott also ein wachsames Auge auf uns haben, damit wir einander wahrnehmen und nicht aneinander vorbeireden. Möge sein Segen mit uns sein, damit Zuversicht und Hoffnung unsere Begleiter sind. Es ist nämlich doch nicht alles eitel. Es ist nicht nur Windhauch, was wir tun und was wir lassen. Amen!

 

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