Hiob unter uns. Predigt zum Volkstrauertag 2019

André schaut an die Zimmerdecke. Alles ist grau. Alles ist gleich. Alles ist egal. Doch ab und zu zucken vor seinen Augen Blitze. Blitze, die nur er sieht. Gleißendes Licht zerbricht alles, was vor ihm ist. Dann der ohrenbetäubende Knall. André schreit. Er sieht nur Rauch. Und dann neben ihm nur Blut. Er riecht verbranntes Fleisch. Er hört Männer schreien. Dann nicht mehr. Dann Stille. Dann ist wieder alles grau.

André wird die Bilder nicht los. Er war Soldat bei der Bundeswehr. In Afghanistan. Er wollte sich für Frieden einsetzen und etwas für die gebeutelte Bevölkerung tun. Jetzt ist er ausgemustert. Posttraumatische Belastungsstörung hat der Arzt gesagt. Wegen der Bilder, die nur er im Kopf hat, kann er nicht mal als Kraftfahrer arbeiten. Er kann sich nicht konzentrieren. Gottverdammter Krieg!

Mit dem Volkstrauertag kann André nichts anfangen. Er wird wütend, weil kein Mensch aus dem deutschen Volk mit ihm trauert. Er denkt an sein früheres Leben: Es war gut! Nach der Scheidung der Eltern und viel Schulproblemen hat er bei der Bundeswehr eine Ausbildung gemacht. Endlich eigenes Geld verdienen. Ein Auto konnte er sich leisten, eine Wohnung. Mit der Freundin war er im Urlaub. Sie wollten heiraten und eine Familie gründen.

Aber nach dem Einsatz hat sie es nicht bei ihm ausgehalten. Er war ja auch so verändert aus Afghanistan zurückgekommen. Alles war nun anders: Was wichtig war ist nun unwichtig. André hat die Probleme der Leute in Deutschland nicht verstanden. Wirkliche Probleme, das hat er in Afghanistan erfahren, sind ganz andere.
Für ihn ist jetztalles grau, nur unterbrochen von den Blitzen: von den furchtbaren Bildern dieses feigen Anschlags auf seine Patrouille. „Warum ich?“ fragt André. Manchmal wünscht er sich den Tod herbei. Noch hält er aus. "Man kann ja doch nichts ändern!", denkt er mit knapp 30 Jahren.

Lesung: Hiob 14,1-6
Lutherbibel 2017
Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe. Er geht auf wie eine Blume und welkt. Er flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. Doch du Gott, tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst. Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer! Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann: so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.

Es klingelt. Langsam geht André zur Tür. Er öffnet. „Ach Ihr!“ ruft André zu den drei Männern. Sie hatten früher zusammen Fußball gespielt. „Wir wollten mal nach Dir schauen! Wir sollten mal wieder etwas zusammen unternehmen, wie früher…“ André sackt wieder auf seinem Bett zusammen. „Was ist mit Dir?“ will einer wissen? André sagt nur, dass alles grau ist und dass die Bilder vom Anschlag in seinem Kopf alles lähmen. „Warum muss mir das alles passieren? Womit habe ich das verdient?“ fragt André.

„Es gibt für alles einen Grund!“ sagt der eine Freund. „Was Du Gutes tust, kommt gut zurück. Und was Du verbockst, musst Du wieder auslöffeln. Es war ein Fehler, dass Du nach Afghanistan gegangen bist! Hast auch selber schuld, dass Du Dich beim Bund gemeldet hast!“

Ja das stimmt, denkt André. Aber ich habe was Gutes gewollt und muss mit der Depression dafür zahlen. Das ist doch ungerecht!

„Mensch André!“ sagt der zweite. „Andere haben auch ihr Bündel zu tragen: Krankheiten, Jobverlust, Ärger mit der Familie. Das gehört zum Leben dazu…“

„Auch richtig. Aber was willst Du mir damit sagen? Das es normal ist, dass es mir jetzt schlecht geht?“ Das denkt er, über die Lippen kommt es ihm nicht.

„Wer weiß, wozu das gut ist!“ mischt sich nun auch der Dritte ein. Wer weiß, was der liebe Gott sich da ausgedacht hat! Halt durch! Kopf hoch. Das wird schon wieder. Irgendwann wirst Du sagen: das hat schon alles seinen Sinn!“

André denkt: „Schöne Freunde sind das. Labern sich da was zusammen und haben null Ahnung!“ Und dann sagt er müde: „Ach übrigens, ich glaube, ihr solltet jetzt gehen. Ich kriege gleich noch einen Anruf…“

Die Freunde gehen. Sie schauen sich betreten an: „Wir wollten doch nur helfen!“

Wer auf schwere Fragen schnell eine Antwort hat, hat billigen Trost im Gepäck. Billig ist schnell zu haben. Floskeln kennen wir alle. Und wer auch im religiösen Mäntelchen schon auf alles eine Antwort weiß, hört nicht, was wirklich Sorgen macht. Für den ist das fertige Dogma wichtiger als der suchende Mensch. So ergeht es Hiob in der Bibel. Er versteht sein Leiden nicht. Und er kann es nicht verstehen. Wer raucht muss mit Krebs rechnen. Da kann man sich eine Begründung vorstellen. Und wer sich hinten anstellt und nur für andere da ist, der hat oft Magenprobleme. Der frisst alles in sich hinein, sagt man. Wenn wir eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen von Problemen haben, dann können wir leichter mit
schweren Lebensgeschichten umgehen. Aber es gibt eben auch viele Hiobsbotschaften, für die es eben keine einleuchtende Erklärung gibt. Da muss dann schon eine Spekulation über komische Dinge im Himmel herhalten. Zum Beispiel dieses: Dass Gott eine Wette mit dem Teufel eingegangen ist. – Genau das hat man der Geschichte von Hiob dann vorangestellt.

André hat von seinem Pfarrer aus dem Einsatz eine Bibel geschenkt bekommen. Alle Überlebenden des Anschlags hatten die bekommen. André hat da noch nie rein geschaut. Kirche und Gott sind nicht so sein Ding. Glaube ist gut für die, die Probleme haben. Jesus ist nichts für Normalos, hat André immer gedacht. Jetzt starrt er in das Grau an der Decke. 

Er wünscht sich, er hätte vielleicht doch so ein Gerüst, was die Seele zusammen hält, wenn sonst alles auseinanderbricht. Er wünscht sich einen Glauben, der stand hält. André holt sich die Bibel. Er schlägt sie auf. Irgendwo in der Mitte. Hiob steht da am oberen Rand und eine dicke 14. Er beginnt zu lesen:

Hiob 14,13-17

Ach dass du mich im Totenreich verwahren und verbergen wolltest, bis dein Zorn sich legt, und mir eine Frist setzen und dann an mich denken wolltest!  Meinst du, einer stirbt und kann wieder leben? Alle Tage meines Dienstes wollte ich harren, bis meine Ablösung kommt.  Du würdest rufen und ich dir antworten; es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände. Dann würdest du meine Schritte zählen und nicht achtgeben auf meine Sünde. Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegeln und meine Schuld übertünchen.

André atmet schwer. Er versteht dieses verschrobene Deutsch nicht richtig. Aber er spürt eine Sehnsucht. Alles, was war, müsste in einen Umschlag, in ein Bündchen. Fest versiegelt und würde nicht mehr ständig auftauchen und sein Leben durcheinander bringen. Und was auch immer war, auch jede Fehlentscheidung im Leben, würde nicht mehr zählen. Alles wäre wie übermalt. Kein Grau mehr, sondern Buntes wäre nun zu sehen. Keine Blitze und Gewalt, sondern Menschen, die sich entgegen kommen und lachen und gemeinsam Essen. Wer fragt findet Ohren, die zuhören. Jemand hält das Weinen aus und trägt die Sorge mit und hat nicht auf alles schon eine Antwort. André merkt, dass Hiob ähnliches durchmacht wie er. Aber Hiob hat trotzdem noch Hoffnung. Er klammert sich im Grau an einem Licht fest. „Das will ich auch!“ sagt André.

Heute ist Volkstrauertag. Gedenken an die Toten. Tote in Uniform und Tote in Zivil. Der Weltkrieg ist schon lange her. Aber die Kriege der Welt hinterlassen unter uns Menschen wie André und sie spülen in kleinen Booten auch Männer Frauen und Kinder an die Strände der kanarischen Inseln; Menschen, deren Namen und Geschichte wir nicht kennen.

Wir können so tun, als ob das alles uns nicht anginge. Wir können billige Lösungen zur Hand haben, die aber schlussendlich nichts lösen. Wir müssen manchmal auch eine gewisse Ratlosigkeit ertragen, auch wenn das schwer ist. Hiob lehrt uns, dass unser Leben manchmal unerträgliche Fragen aufwirft. Hiob lehrt uns, dass wir mit Gott auch streiten dürfen. Hiob sehnt sich nach einer Hoffnung, die stärker ist als Leid und Traurigkeit. Inmitten aller Klage bricht sich ein Licht den Weg.

Es gibt Menschen, wie André, die spüren, dass es dieses wohltuende Licht, diese Hoffnung wirklich gibt. André weiß noch nicht, wie er das nennen soll. Für uns Christen heißt dieses Licht und diese lebendige Hoffnung: Gott! Er ist das Licht, dass die Macht des Dunkels überwinden kann. Blenden wir Menschen mit unserem Glauben nicht. Aber wir können das Licht des Glaubens leuchten lassen, damit die, die im Dunkel sind, ihren Weg finden können.
Amen.

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