Das Grundgesetz des Christentums Predigt von Prädikantin Verena Wache zu Lk. 6 am 10.11.2019

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.
Liebe Gemeinde,
der Predigttext zum heutigen Sonntag steht bei Lukas im 6. Kapitel und ist eine einzige Herausforderung, für mich als Predigerin, für Sie als Gemeinde, für die, zu denen Jesus spricht. Sie stellt sich am radikalsten, am drängendsten, wenn wir Jesu eigene Worte hören.

An zwei Stellen im Neuen Testament sind diese Worte konzentriert zusammengestellt: in der Bergpredigt bei Matthäus und ganz ähnlich in der Rede auf einem Feld, der sogenannten Feldrede bei Lukas. Jesus spricht darin die Menschen an, die aus dem ganzen Land zu ihm gekommen sind, die durch sein Wort, seine Berührung gesund werden wollen. Darunter sind auch viele, die er von Krankheiten geheilt hat und von bösen Geistern, von denen sie umgetrieben waren. Alle spüren, wie eine besondere Kraft von Jesus ausgeht, eine heilende Kraft für alle. Sie wollen seine Worte hören. Gewaltige Worte sind es, die Jesus spricht. Man hat diesen Text auch die „Magna Charta des Christentums“ - das „Grundgesetz des Christentums“ genannt. 
27Aber ich sage euch, die ihr zuhört: 
Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; 28segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. 29Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. 
30Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. 
31Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch! 
32Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen. 
33Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch. 
34Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr da-von? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche zurückbekommen. 
35Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. 
36Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen. 
Liebe Gemeinde,
und darüber soll ich nun predigen, die „frohe Botschaft“ verkündigen. Doch ich habe so viele negative Assoziationen dazu. „Die andere Backe hinhalten“ – was haben Frauen oft ausgehalten, bis sie ins Frauenhaus geflüchtet sind? Wieviel Backpfeifen haben sie eingesteckt, wieviel Liebe versucht der Gewalt entgegenzuhalten?
Ich denke auch an die unaussprechliche Gewalt gegen Menschen ohne jeden Anlass. Es reicht, wenn jemand fremd aussieht oder eine Kippa trägt, schon wird er bespuckt, getreten und gejagt. Die andere Backe hinhalten?
Etwas verleihen und nicht zurückzubekommen und es auch gar nicht fordern? – Es gibt eine Frau in meinem Bekanntenkreis, die hat aus Liebe für ihren Ex-Mann gebürgt und diese Bürgschaft wurde eingefordert; die Folge: sie wird bis an ihr Lebensende hoch verschuldet bleiben und kaum etwas selbst zum Leben haben.
Wenn dir einer den Mantel wegnimmt, gibt ihm auch noch den Rock dazu? Wie bitte? Hatten die Menschen zu Jesu Zeiten etwa einen gut gefüllten Kleiderschrank? Nein, bestimmt nicht. Wenn‘s hoch kommt, hatten sie ein Alltags- und ein Festtags-Gewand. Sollten sie also beinahe nackt herumlaufen?
Nein, dreimal nein! So hat Jesus das nie und nimmer gemeint. All diese Gewalterfahrungen, die Schmähungen und Beleidigungen, all das haben ja die Menschen erfahren, die Jesu zuhörten. Durch die römische Besatzungsmacht, die durchaus nicht freundlich gesonnen war oder gar lustig, wie in Asterix und Obelix. Allein unter Pontius Pilatus wurden 722 Todesurteile (manche Quellen berichten von fast 6.000) durch Kreuzigung verhängt, oft sehr willkürlich. Der jüdische Philosoph und Dichter Philo von Alexandria zählt folgende Anklagepunkte gegen ihn auf: Bestechungen, Beleidigungen, Raub, Gewalttätigkeit, Zügellosigkeit, wiederholte Hinrichtungen ohne juristisches Verfahren, konstante Ausübung von extrem leidvoller Grausamkeit.
Dazu kam für die Menschen rund um Jesus noch der enormen Druck der vielen Steuern. Wir erfahren davon bereits in der Geburtsgeschichte Jesu. Auch waren sie den Bespitzelungen durch ihre Mitbürger ausgesetzt. Kommt uns doch irgendwie bekannt vor? 
Vor 30 Jahren fiel die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland. Gewaltfrei, durch friedliche Proteste. Protest – das heißt „für etwas sein“, in dem Fall für Freiheit, Reformen und Mitmenschlichkeit. Nicht zuletzt durch die Christen dort  wurde das erreicht. Ein führendes Zentralkomitee-Mitglied sagte: „Wir haben mit vielem gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten“. 
So wie Jesus es fordert: Macht es nicht genauso wie alle anderen, wie die Heiden und Mächtigen, sondern seid erkennbar in dem was ihr tut. Erkennbar als Menschen, die sich zu mir bekennen, die mir zuhören, die mich verstehen, die versuchen, das Gehörte umzusetzen.
Macht Euch Gedanken, sagt Jesus, denn er  lehrt uns nicht die Unterwerfung unter das Böse, sondern die Weigerung, dem Bösen mit seinen eigenen Mitteln zu begegnen. Wir sollen nicht zulassen, dass der Gegner uns die Methoden unserer Gegnerschaft diktiert. Er bestärkt uns darin, über Passivität wie auch Gewalt hinauszugehen und eine dritten Weg zu finden, einen Weg, sich durchzusetzen und dennoch Gewalt zu meiden. Es geht bei Jesus weder um Unterwerfung noch um Angriff, weder um Kampf noch um Flucht, sondern um einen Weg, der den handelnden Personen jetzt ihre Menschenwürde sichert. 
Um Frieden zu erreichen, müssen letztlich beide Seiten gewinnen. Die Welt wartet auf Kerzen und Gebete.
Ein ganz profanes Beispiel dafür finden wir bei Pippi Langstrumpf. Diese moderne Märchengestalt von Astrid Lindgren wohnt in einem Haus mit einem Äffchen und einem Pferd. Sie geht nicht zur Schule, macht allerlei komische Dinge (jedenfalls für die Erwachsenen) und ist vor allem sehr stark. Eines trüben Herbstabends schauen zwei Landstreicher durch das Fenster in die Villa Kunterbunt und sehen, wie Pippi ihre Goldstücke in dem großen Koffer zählt. Ein Mädchen, allein zu Hause, das viele Gold, das weckt Begierlichkeiten. Also steigen die Landstreicher durch das Fenster und verlangen das Gold. Pippi gibt es ihnen. Als sie gehen wollen, verlangt sie es zurück. Die beiden lachen und denken, dass sie so einfach davonkommen. Da lässt Pippi die Muskeln spielen und schnell sind sie das Gold wieder los. 
Statt um Hilfe zu rufen, sie bei der Polizei anzuzeigen, lädt sie die Landstreicher ein, bläst auf dem Kamm und tanzt mit ihnen schottische Tänze. Voller Feindseligkeit hat die Geschichte begonnen, und sie endet im Tanz. Die Aggressivität ist überwunden. Als der Morgen kommt, ziehen die beiden weiter, jeder mit einem Goldstück in der Hand. Eine Win-Win-Situation: Pippi hatte einen netten Abend in lustiger Gesellschaft und die beiden Männer etwas in der Hand, mit dem sie eine Weile auskommen konnten.
Ach ja, im Kinderbuch geht das. Da darf die Fantasie frei walten und aus Feindseligkeit wird Tanz und es entsteht Gemeinschaft. Stellen Sie sich das einmal in echt vor! Sie kreisen mit Ihrem Auto schon lange um den Block, entdecken schließlich einen freien Parkplatz und schwupps! – jemand nimmt Ihnen den vor der Nase weg. Statt sich furchtbar aufzuregen und zu schimpfen, laden Sie ihn auf ein Eis ein. Nie und nimmer oder warum nicht?
Oder: in Deutschland schneidet Ihr Nachbar immer wieder ungefragt Ihre Büsche und Bäume zurück, weil sie angeblich über die Grundstücksgrenze wuchern. Sie revanchieren sich damit, dass Sie im Winter für ihn Schnee schippen. Bei einem Glas Glühwein lassen sich vielleicht dann auch die ungefragten Gartenarbeiten wieder einlenken.
Für das menschliche Zusammenleben braucht es Regeln. Aber leider ist es heute nicht mehr selbstverständlich, sich an Regeln zu halten. Regierungen machen es vor: Regeln, Abkommen werden je nach Lust und Laune außer Kraft gesetzt, wenn maximaler Gewinn lockt. „America first“, Trump hat es vorgemacht und er findet viele Nacheiferer. Die Erderwärmung ist eine Lüge, Umweltschutz etwas für Schwächlinge, der Machterhalt wichtiger als alles andere. 
So viele Menschen, die ohne Regeln leben und darauf auch noch stolz sind. So viel Hass und Lieblosigkeit, so viel sinnlose Gewalt.
Wenn ich in Berlin die Treppen zur U- oder S-Bahn hinuntergehe, dann gehe ich ganz nah am Treppengeländer, um nicht hinuntergestoßen zu werden. Wenn ich dann auf den Zug warte, so tue ich das nicht mehr an den Schienen, sondern stehe im wahrsten Sinne des Wortes „mit dem Rücken zur Wand.“ Zu oft habe ich gelesen, dass jemand „just for fun“ vor den einfahrenden Zug gestoßen wurde. 
Jesus sagt: Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch! 
Manchmal würde ich am liebsten den Kopf in den Sand stecken. Ich ertrage das nicht mehr. Ich merke, wie ich die Hoffnung verliere. Ich fühle mich ohnmächtig. Manchmal hingegen bin ich voller Wut. Am liebsten möchte ich laut aufschreien. Die Ungerechtigkeit und Dummheit dieser Welt machen mich zornig. Und immer wieder von neuem fassungslos.
Welche Autorität haben die Worte des jüdischen Rabbis Jesus? Liebet eure Feinde! Tut wohl denen, die euch hassen.
Segnet, die euch verfluchen, bittet für die, die euch beleidigen. Wer dich auf die eine Backe schlägt, dem halte die andere auch hin. Und er sagt: Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch! 

Mit diesen Worten weist Jesus uns einen anderen Weg. Einen Weg zwischen Resignation und Zorn. Er selbst hat ihn uns vorgelebt. Bis zur letzten Konsequenz. Bis zum Kreuz, wo er seinen Vater um Vergebung für seine Peiniger bittet: »… denn sie wissen nicht, was sie tun«. Es ist der Weg der Liebe. Eine Liebe, die nicht nur den Nächsten, sondern auch den Feind im Blick hat. Den, der mir mein Leben schwermacht. Oder der mir einfach fremd ist. Weil er anders denkt und glaubt als ich.
Von Mutter Theresa ist folgendes überliefert: Da gibt es diese Schwester in der Gemeinschaft, die die Gabe hat, mich jedes Mal zu nerven. Ihre Art zu reden, ihr Verhalten, ihr Charakter sind so wenig liebenswert. Aber sie ist eine Schwester. Gott liebt sie von Herzen. Also erlaube ich meiner Abneigung gegen sie nicht, mich einzunehmen. Ich habe mich entschieden, diese Schwester so zu behandeln, als wäre sie die liebenswerteste auf der Welt. Jedes Mal, wenn ich sie treffe, bete ich für sie und danke Gott für ihre Gaben und Taten. Ich bin mir sicher, dass Jesus sich das von mir wünscht.
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen. 
Als Christen sollten wir das schaffen. Jesus traut es uns zu. Amen.
Verena Wache
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