Richtet nicht! Sonntag 14.7.2019

Vom Umgang mit dem Nächsten (Lukas 6,36-42)

36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 
37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen. 
39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? 
40 Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister. 
41 Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? 
42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.

Liebe Gemeinde,
Sie kennen das Symbol: Daumen rauf heißt: Ich mag es oder Dich! Und weil das Symbol von Facebook kommt ist es ein „Like“. Viele „Likes“ heißt gut. Ab 70 Likes bekommt man bei Facebook ein Persönlichkeitsprofil.
Es braucht nur eine Handdrehung und aus dem „Ich mag Dich!“ wird ein „Ich mag Dich nicht!“: Daumen nach unten.
Und im Nu ist die Bewertung rund um die Welt geschickt. Was im digitalen Netz erscheint, ist nur schwer rückgängig zu machen. Selbst wenn man sein Urteil ändern möchte. Das ist die eine Gefahr des „Like“ oder „Dislike“. Egal ob man sein Urteil mit einem Emoticon oder durch einen Kommentar veröffentlicht.
Die andere Gefahr ist, dass viele „Likes“ oder „Dislikes“ auch inszeniert werden können, also keine echten Urteile sind, sondern gezielte Meinungsmache.
Und überhaupt: Was heißt das: Ich mag etwas? Was mag ich genau an jemanden und wo ist bei aller Wertschätzung auch Kritik notwendig?
Daumen hoch oder Daumen runter, ein schnelles Urteil über jemanden ist zunächst einfach gedacht und darum oft problematisch. Nicht erst jetzt. Jesus erzählt schon davon:

Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet!
Stattdessen: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.

Das Wort aus dem Lukasevangelium ist also an die christliche Gemeinde gerichtet, nicht gleich an die ganze Welt. Anscheinend war es notwendig, die Christen und ihr Verhalten an die Barmherzigkeit Gottes zu erinnern. Christen und Christinnen sollen lernen, barmherzig zu leben, weil Gott Liebe und Barmherzigkeit ist. Jesus hat es vorgemacht: 
-       Das Urteil der Leute über die angeblich raffgierigen Zöllner teilt er nicht, sondern lädt sich zum Essen bei einem ein. 
-       Das Todesurteil der Pharisäer über eine Ehebrecherin trägt er nicht mit. 
-       Und sogar am Kreuz sagt Jesus gegenüber seinen Peinigern: Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Jesus lebt ohne Zweifel das, was Gott ist: Barmherzigkeit! Wenn Menschen Jesus nachfolgen, dann sollen sie sich daran ein Beispiel nehmen.

Daran müssen wir auch heute wieder erinnert werden: Als meine Frau und ich vor zwei Jahren hier auf Teneriffa anfingen, waren wir zum Kaffee eingeladen. Die Dame des Hauses überreichte uns eine Liste mit Namen aus der Gemeinde. Die Namen waren aufgeteilt in: die sind wichtig und gut; die anderen sind gefährlich. Like und Dislike. Vor allem bei denen, für die sie den Daumen gesenkt hatte galt: „Hütet Euch vor denen!“ sagte sie. „Seid wachsam!“

Viele Kritikpunkte der Frau an Einzelpersonen waren berechtigt. Aber was ist das für eine Gemeinschaft in der Nachfolge Jesu, wo das Urteil schon fest steht, bevor man die Menschen kennengelernt hat? Die Frau wollte uns bewahren, in eine Falle zu tappen. Natürlich haben wir die Liste nicht an uns genommen. Uns war klar, dass es hier menschelt, wie überall.

Jesus aber will von seinen Nachfolgern und Nachfolgerinnen, dass sie sich mit dem scheinbar Allzumenschlichem, also den menschlichen Schwächen im Verhalten nicht zufrieden geben:  Kirche ist mehr als menschliche Gemeinschaft. Kirche ist Gemeinschaft im Namen Gottes:
Seid barmherzig, wie auch Euer Vater barmherzig ist. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.

Eigentlich ist alles klar! So sollen wir uns als Christen untereinander und in der Welt verhalten. Aber Jesus setzt noch nach und fragt: Kann ein Blinder einen anderen Blinden führen? „Nein! Sollen wir antworten. Werden sie nicht beide in die Grube fallen? „Natürlich!“ denken wir. Wir sind die Sehenden und sollen Blinde führen; das ist die logische Schlussfolgerung nicht wahr?
Aber so klar ist das wieder nicht. Denn Jesus widerspricht sich ja selbst: Dass ein Blinder geführt werden muss, ist ein Vorurteil. Blinde finden sich manchmal erstaunlich gut zurecht, vor allem wenn sie einen Blindenstock haben oder Blindenschrift lesen können. – Ich bin froh, dass ich sehen kann und nicht blind bin. Aber wie blind kann auch ein Sehender sein, wenn er z.B. beim Autofahren auf sein Smartphone schaut und dann ungebremst in ein Stauende fährt?

Und noch etwas: Wieso müssen Blinde in die Grube fallen? Wieso ist die Grube nicht gesichert? Wer hebt eine Grube aus und schert sich einen Kehrricht darum, dass jemand hineintappen könnte? Wie viele Sehende sind um eine offene Grube schon herumgegangen und haben sich nicht um die Gefahrenquelle gekümmert? Wievielen ist es piepwurscht, was mit anderen geschieht oder geschehen könnte?

Wer ist wirklich blind und wer sieht, vor allem: wer sieht hin und schaut nicht weg? Wir kennen alle tausende von Beispielen, wo etwas gesehen wird und man trotzdem wegschaut. 
Wer sieht nicht nur den Splitter im Auge des anderen, sondern auch den Balken im eigenen?
Ich würde am liebsten die Mahnworte Jesu dick an jede Wand pinseln, weil Urteilen und Verdammen, Sehen und doch nicht handeln wollen so allgegenwärtig sind. Ich möchte die Worte Jesu vor jede Schule und jeden Betrieb hängen, damit Menschen das Wort Barmherzigkeit wieder in ihren Sprachschatz aufnehmen und nicht nur „ich,ich zuerst“ rufen.

Und doch geht es zunächst um etwas anderes:
Es geht nicht darum andere zu belehren, sondern als Kirchengemeinde selber ein Zeichen der Barmherzigkeit zu sein; ein Zeichen, dass man hinsehen kann, Hilfe versucht zu leisten und Not aushalten kann, ein Lernort, an dem Menschen anders mit einander umgehen, als es sonst üblich ist. Ein Zeugnis von Gott: Es lässt sich miteinander und füreinander leben, selbst wenn Barmherzigkeit ausgenutzt werden kann. Es geht nicht darum naiv zu sein und alles gnädig zu tolerieren, ganz gewiss nicht! Aber Gott vergibt uns und baut uns immer wieder in seiner Liebe auf. Das sollen keine frommen Worte sein, sondern dass ist die Quelle, aus der Christen und Christinnen ein Zeichen für die Welt sind. Barmherzigkeit ist keine Schwäche, sondern Barmherzigkeit lohnt sich. Und wir können heute damit anfangen. Das Reich Gottes ist als Samenkorn schon mitten unter uns.

Mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.
Daran möchte ich glauben und lasse mich gerne immer wieder daran erinnern!

Amen!

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