Predigt am 12.11.2017 - Lk.11,14-23 - Die Vertreibung des Schweigens

Liebe Gemeinde,
manchmal ging mein Vater gedankenversunken und schweigend in den Garten. Wir Kinder merkten, dass etwas Schwermütiges auf meinem Vater lastete. Wenn wir die Mutter fragten, was denn los sei, bekamen wir zur Antwort: „Vati will für sich sein! Ihr dürft ihn jetzt nicht stören!“ Ich weiß nicht, was schlimmer war: Das Verstummen meines Vaters oder der Mantel des Schweigens, den unsere Mutter über solche Momente legte. Erst später bekam ich eine Ahnung, dass die Kriegserlebnisse und die russische Gefangenschaft wie ein böser und stummer Geist meinen Vater belasteten und dass meine Mutter nie in der Lage war, durch offene Gespräche den Geist des Schweigens und Verschweigens auszutreiben.

Viele Jahre später fing ich als Pfarrer bei der Bundeswehr an. Ich kann mich noch an den 3.Juni 1998 erinnern, als ich meinen Antrittsbesuch beim Dekan in Hannover hatte. An diesem Tag geschah das furchtbare Zugunglück im niedersächsischen Eschede. Junge Bundeswehrsoldaten halfen beim Bergen der Leichenteile und einigen erging es wie meinem Vater. Sie redeten nicht mehr oder nur wenig. Sie wurden vom gleichen bösen Geist mit Stummheit belegt.

Wir neuen Pfarrer in der Bundeswehr lernten nach dem Zugunglück von Eschede diesen Menschen zu helfen. Critical Incident Stress Management heißt das. Eine Methode, um Menschen nach belastenden Ereignissen mit einem strukturierten Gespräch das Erlebte  verarbeiten zu helfen, den bösen Geist gar nicht erst in die Seele hineinzulassen oder sie von dem stummen Geist zu befreien. Das klappt nicht immer, aber es ist ein heilender Ansatz.
Im letzten Bibelgespräch in unserer Gemeinde haben wir noch andere Beispiele gefunden, wo Menschen zum Schweigen gebracht werden. Da gibt es den bösen Geist des Nicht-Ausreden-Lassens, den des Mobbings, den Geist der Unverschämtheit, der einem die Sprache verschlägt oder den Geist der lähmenden Angst.

Die Bibel erzählt, wie Jesus den bösen Geist des Schweigens aus dem Stummen herauswirft. Er erbarmt sich des stummen Menschens. Eine krankhafte Lähmung der Stimmbänder ist das eine. Hier aber soll vor allem der Geist des Schweigens und des Verschweigens aus denen vertrieben werden, die Jesus nachfolgen wollen. Der Stumme beginnt befreit zu reden und die Menge wundert sich.

Auch die sich wundernde Menge ist offenbar Jesus nachgefolgt. Sie machen das Gegenteil vom Schweigen: Sie reden. Einige reden über Jesus, anstatt mit ihm. Sie tuscheln hinter dem Rücken, sie verbreiten Gerüchte: „Er treibt die bösen Geister durch den obersten teuflischen Geist, den Beelzebub aus.“ Ich finde, das ist ein widerlich böser Geist, wenn Menschen anfangen hinter dem Rücken zu reden. Er verselbständigt sich und greift in den Seelen Platz. Gerüchte verbreiten sich. Meistens sind es Lügen und Schmähungen. Es ist erschreckend, dass nach unserem Bibeltext dieser Geist auch bei denen Macht hat, die doch Jesus irgendwie nachgefolgt sind. Der Geist der Lüge und Intrige ist überall und auch heute zu finden. Lukas erzählt die Geschichte vor den Menschen seiner eigenen Gemeinde. Offenbar hat der Geist des Getuschels und der Gerüchte auch Macht bei denen, die sich Christen nennen. Wir tun gut daran, auch in der Kirchengemeinde aufzupassen, wenn irgendetwas über jemanden gesagt wird, anstatt mit ihm oder ihr in Offenheit und Respekt zu sprechen.

Lukas erzählt weiter: Andere aus der Menge geifern nach Zeichen. Ein Wunder reicht nicht. Wie bei uns heute: Menschen zücken die Handys, um ihre Anwesenheit bei Unfällen oder anderen ausserordentlichen Ereignissen zu posten. Aber Anteilnehmen oder Begreifen tun sie nichts.

Jesus durchschaut die Menschen und er bietet denen die Stirn, die tuscheln oder die sich selbst gerne im Mittelpunkt sähen. Er fordert die Zuhörer auf, Position zu beziehen. Gehört ihr zu denen, die sich an übler Nachrede oder Sensationslust beteiligen? Gehört ihr zu denen, die zwar keine eigenen Gerüchte verbreiten aber stumm bleiben, wenn es doch gilt Einspruch zu erheben? Gehört ihr zu denen, die auf eine Sensation warten? Die sich dann in den Mittelpunkt stellen, um sagen zu können: Hast Du schon gehört…? Gehört ihr zu denen, denen solches Gerede zwar auf den Nerv geht, die aber nichts dagegen sagen mögen?

Der Geist des Zuschauens und Schweigens ist genauso böse wie der Geist des Tuschelns oder der Sensationsgier. Beides passt nicht zur Botschaft Jesu und soll in der Kirche und unter Christen keine Macht haben. Wo er doch schon Platz gegriffen hat , soll er ausgetrieben werden.

Jesus sagt: Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut. Dieser Doppelsatz ist nicht nur eine Forderung nach Eindeutigkeit, nach christlichem Verhaltensstil und mutigem Bekenntnis. Das griechische Wort für zerstreuen heißt skorpizein. Skorpios ist der Skorpion. Mein griechisches Lexikon sagt, dass der Skorpion ein wegen seines giftigen Stiches gefürchtetes Ungeziefer ist. Menschen die übel Nachreden verbreiten also wie ein Skorpion Gift, sie Stechen bewußt oder - was nicht weniger übel ist - unbewußt zu. Sie sind wie Ungeziefer und sollten in der Gemeinschaft von Christen nichts zu suchen haben. 

Mich bewegt, mit welcher Eindeutigkeit und Schärfe der Evangelist Lukas diese Geschichte erzählt. Ich erahne, wie turbulent es in seinen Gemeinden zugegangen sein mag. Lukas muss auch die Erfahrung gemacht haben, dass der böse Geist des Schweigens und Verschweigens immer wieder erneut Platz greift. Davon erzählt Lukas nämlich schon in der Folgegeschichte. Der böse Geist kommt da zurück und den Menschen geht es noch schlimmer als zuvor. Vielleicht ist dieser böse Geist uns Menschen immer wieder nahe. Darum sollen Christen wohl um so wachsamer sein. Wir müssen erinnert werden, denn offenbar vergessen wir die mahnenden Geschichten sehr schnell wieder.

Am vergangenen Donnerstag war der 9.November. -

9.November 1938:  Der Tag der Judenhetze in Deutschland. Böses Gerede, böse Tat und böses Schweigen der Menge! Die „Zeit“ schreibt in dieser Woche: „Bloßes Gedenken reicht nicht!“ Leider muss man wieder die Stimme erheben und Position beziehen gegen Rassismus und Fremdenhass. Die Zerstreuer, die Skorpione sind wieder da. 

9. November 1989: Die Mauer fällt. Der Palast der mächtigen SED wird von der Stimme der Menschen überwältigt. Die stumm Gemachten reden. Die Kirchen werden zum Raum, wo die Stimme der Freiheit das Wort übernimmt. Aber auch hier gilt: Bloßes Erinnern reicht nicht.

Die Worte Jesu erinnern immer wieder an die bösen Geister unter uns aber Gott sei Dank auch an die gelungenen Vertreibungen des Bösen. Lassen wir uns also anstecken von der Geschichte und Botschaft Jesu : Machen wir unsere Kirchengemeinden zu Orten der Freiheit, des Respektes und der aufrichtigen Rede. Verschweigen wir nichts. Überlegen wir aber, ob unsere Worte oder unser Stillehalten dem Sammeln dienen oder dem Zerstreuen und Vergiften. Jesu Wort ist der hilfreiche Maßstab für unser Reden, Schweigen und Handeln. Gott helfe und bewahre uns. Amen!


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