Predigt zu Philipperbrief 3, 7-14 (Über den Umgang mit geteilten Lebensgeschichten)

Liebe Gemeinde,

Elisabeth lebt seit gut 2 Jahren auf Teneriffa. Sie fühlt sich hier wohl. „Endlich bin ich frei!“ sagt sie. Sie erzählt mir von ihrem verantwortungsvollen Job, den sie früher hatte und den sie sehr gewissenhaft ausgeführt hatte. Dann bekam sie ein Kündigungsschreiben. Eine Abfindung kam noch, und dann von heute auf morgen war sie ihren Job los. Eine Erklärung dafür bekam sie nicht. Ihre Ehe war vorher schon geschieden worden. Alles, was ihr früher wichtig war, ist weg. Es hat Mut gebraucht, bis sie sich sagte: „Ich fang noch mal neu an. Ich will weder von einem Mann noch von einem Beruf abhängig sein.“ „Wenn ich zurückblicke,“ sagt sie, „ dann frage ich mich, wofür habe ich gelebt? Wieviele falsche Entscheidun-gen habe ich getroffen? Jetzt bin ich endlich frei!“. 
Ganz stimmt das natürlich nicht. Elisabeth pflegt noch den Kontakt zu ihren Kindern und deshalb spricht sie auch mit ihrem Ex-Mann. Und dann macht sie sich auch Gedanken, wie das mal im Alter wird. Sie hält sich den Weg zurück in ihre Heimat offen. Ganz frei, das weiß sie, ist man nie.

Vorher und nachher:
das prägt manchmal die Biografie von Menschen. Bei den einen ist es so, dass sie sich nach dem Früheren zurücksehnen und mit den neuen Lebensphasen nicht zurechtkommen.
Bei anderen ist es - wie bei Elisabeth - genau umgekehrt: das vorher möchte man am liebsten vergessen und aus der Lebensgeschichte streichen.

In der Biografie vom Apostel Paulus ist es auch so: Sein vorher und nachher ist zum Sprichwort geworden: Vom Saulus zum Paulus werden. Früher war er ein Eiferer für die religiösen jüdischen Gesetze. Die Ordnungen müssen eingehalten werden, dachte er: Beschneidung, Speisevorschriften, Sabbatgebote usw. Und jeder, der meinte es könne anders sein, den hatte Paulus persönlich verfolgt. Bei Stephanus hatte er sogar die Todesstrafe angeordnet. Dann hatte er eine Begegnung mit Jesus. Und danach wurde alles anders. Nicht die Ordnungen der Religion waren nun das Wichtigste. Es zählt nur der Glaube, dass Jesus uns einen Zugang zu Gott ermöglicht, auch wenn vieles in unserem Leben nicht dem entspricht, wie es vielleicht hätte sein sollen. Wie Elisabeth merkte Paulus: „Jetzt bin ich endlich frei!“ Mit seiner Vergangenheit rechnet auch Paulus schonungslos ab. Doch hört selbst. Ich lese den Predigttext für den heutigen Sonntag aus dem Philipperbrief im 3. Kapitel (Verse 7 – 14):

7 Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. 
8 Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, auf dass ich Christus gewinne
9 und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott kommt durch den Glauben. 
10 Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden, 
11 damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.
12 Nicht, dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. 
13 Meine Brüder und Schwestern, ich schätze mich selbst nicht so ein, dass ich's ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, 
14 und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus. 

Vorher und Nachher:

Was mir früher wichtig war, erachte ich jetzt für „Dreck!“ (und das ist noch eine sehr sittsame Übersetzung des ursprünglichen von Paulus gebrauchten Wortes). Paulus schreibt: Ich muss mit meinem früheren Leben so abrechnen, damit ich jetzt Christus gewinne und selber in ihm gefunden werde.

Paulus wechselt seine Einstellung fundamental; er ist mit umgekehrten Vorzeichen ein Radikaler geblieben. Ich gestehe, mir ist das ein bisschen unheimlich. Wenn mir Radikale begegnen, wird mir mulmig und das gilt erst Recht bei religiös Radikalen. Die Christen in Philippi haben offenbar Begegnungen mit Menschen gehabt, die wie Paulus früher, die Einhaltungen der jüdischen Gesetze forderten. Da rastet Paulus aus: Das wäre ja Rückfall in das Vorher. Jesus Christus zählt und nicht die Forderung nach Beschneidung oder Einhaltung der Speisevorschriften. Seine Gegner bezeichnet er deshalb als „Hunde“, ihre Absicht als „Zerschneidung“. Hui, da geht es zur Sache. Wie schnell aus verbalen Entgleisungen reale Gewalt werden kann, das wissen wir Gerade gegenüber jüdischen Mitbürgern müssen wir in diesen Tagen das Miteinander suchen und der verbalen und körperlichen Gewalt entgegentreten. Ich bleibe dabei: Vorsicht bei allem Radikalen! 
Auch Paulus rudert ja ein bisschen zurück:
Nicht, dass ich´s schon ergriffen hätte oder vollkommen sei. Ich jage dem Ziel Christus nachzufolgen aber nach!“

Ich frage mich dabei immer, was Jesus denn wohl selbst dazu sagt, wenn es bei Menschen so einen Schnitt in der Lebensgeschichte gibt. Soll man das Vorher zugunsten des Nachher streichen und vergessen, wie Paulus es für sich sagt? Oder gegebenenfalls auch umgekehrt? Nein, so geht es nicht! Im Gegenteil: Als Seelsorger weiß ich, wie wichtig es sein kann, das Vorher im Leben anzunehmen, um Probleme für ein „Nachher“ besser in den Griff zu bekommen. Ich glaube, dass Gott uns einLeben geschenkt hat und nicht zwei oder drei, von denen wir uns dann eines aussuchen können. Fehler und Erfolge gehören im Leben zusammen, Schmerz und Heilung, Segen und Fluch; wie Ying und Yang; wie Tod und Auferstehung; wie Schuld und Vergebung. Im Glauben an Jesus Christus sehe ich meine ganze Lebensgeschichte. Ich weiß, dass Gott mir meine Fehler vergibt, sodass ich wieder frei atmen kann. Ich kann aus Fehlern lernen. Das klingt nach Allerweltsweisheit. Im Glauben an Gottes Nähe aber muss ich nicht verkrampft versuchen, nun alles perfekt zu machen. Die perfekten Christen, die schon genau wissen, was Du jetzt zu tun oder zu lassen hast, bleiben unheimlich. 

Nicht auf sie oder auf Paulus kommt es an, nicht auf Martin Luther oder den Papst oder irgendeinen anderen, sondern auf den Glauben an Jesus Christus, der uns annimmt und zum ewigen Leben führt, mit vorher und nachher. Das macht gelassener im Umgang mit Brüchen in der eigenen Lebensgeschichte, das macht frei. „Endlich frei!“
Amen!

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Adios!

Regenbogen-Noah und wir. kurze Predigt zu 1.Mose 8,18-9,17

Lukas 21,25-33 Gegen den Weltuntergang